Idee
Nach dem Boom ist viel. Auf der Suche nach dem neuen Lateinamerika der jungen Poesie
Schmutziger Realismus oder neobarocker Schlamm? Popcorn-Elegien oder Zwiegespräche mit José María Arguedas? Was macht das literarisches Lateinamerika nach historischer Avantgarde und Boom aus? Ein lateinamerikanisches Poesiefestival, das vom zentralen Netzknoten Berlin aus durch Deutschland tourt und Stationen in Potsdam, Leipzig, Hamburg und Köln einlegt, gibt hierauf mögliche Antworten: Nach dem großen Erfolg der Latinale 2006 werden bei einer zweiten Auflage des Festivals vom 27. Oktober - 7. November 2007 wieder repräsentative, innovative Stimmen einer neuen Dichtergeneration erstmals in Berlin vorgestellt. Schwerpunkt ist dabei der Andenraum sowie die neue Performance-Dichtung aus Brasilien und dem Río de la Plata-Raum.
Netz und Festivals. Vom Latin.Log on the Road
Seit Dezember 2005 betreiben Rike Bolte und Timo Berger die elektronische Gedichtanthologie „Latin.Log“ auf der Platform des Onlinefeuilleton satt.org, in der jede Woche ein Gedicht von einem/r jungen zeitgenössischen Autoren/in aus Lateinamerika sowie dessen Übertragung ins Deutsche veröffentlicht wird. Das mobile lateinamerikanische Poesiefestival Latinale lädt einige der im Latin.Log publizierten Autor/innen ein, um sie in fünf deutschen Städten lesen zu lassen. Hierbei wird ein ‚Literaturmobil‘ – ein turbulenter Kleinbus –zum Einsatz kommen.
Der Überlandbus – in den unterschiedlichen lateinamerikanischen Ländern mit Namen wie colectivo, micro, bondi, guagua, camello etc. bezeichnet – ist auf dem Subkontinent das meist genutzte Transportmittel. Auch die mobil gewordene junge Dichtergeneration ist damit zu den immer häufiger stattfindenden lateinamerikanischen Poesie-Festivals oftmals tagelang unterwegs. Gemäß dieser Idee wird der Bus im Sinne einer bewegten Metapher in den Dienst einer neuen Entwicklung der transnationalen (lateinamerikanischen) Poesiegemeinschaft gestellt und nach Europa zitiert.
Mobiler Übersee-Dialog
Berlin ist der zentrale Netzknoten bzw. Startpunkt der Latinale 2007. Potsdam, Leipzig, Hamburg und Köln werden weitere Haltestellen einer Sternfahrt-gleichen, immer wieder in die Hauptstadt zurückführenden Reise sein. Das Grenzüberschreitende des Überlandbusses inspiriert dabei auch das Konzept des Festivals in dem Sinne, als an den Haltestellen Potsdam, Leipzig, Hamburg und Köln, sowie in Berlin deutsche Dichter/innen mit lateinamerikanischen Gästen in den Lektüreveranstaltungen, in einem Seminar-Workshop sowie in einer Übersetzerwerkstatt zusammentreffen und in einem ‚Übersee-Dialog’ miteinander konferieren werden.
Die ‚Bewegtheit‘, die das Festival in Szene setzen wird, ist also dreifacher Art: sie spielt 1. auf die kulturelle Mobilität in Lateinamerika an, transferiert diese 2. in einer interkontinentalen Reise nach Europa und lässt sie 3. mit der Mobiliät der jungen deutschen Dichter/innen-Szene ins Gespräch kommen. Die in Deutschland sich großer Beliebtheit erfreuende lateinamerikanische Literatur wird dabei um eine nachrückende Generation erweitert, die zudem schon in einem auch medialen Sinne kulturelle Migration und ‚Konfusion‘ betreibt.
Zwittern und Singen. Mehrfache Auftritte
Unter den Motti „Scherben Poesie und Zwittertöne“ bzw. „Pumas
Zunge und Gesang der Marien“ wird in Berlin die gesamte Anzahl
der zur Latinale 2007 eingeladenen Dichter/innen lesen. Für die
poetische Reise nach Köln, Potsdam, Leipzig und Hamburg werden die
Gäste in zwei Gruppen aufgeteilt und zu jeweils mit den dortigen
Lesebühnen abgestimmten Motti aus ihren Werken vortragen. Im Literaturhaus
Köln z.B. gastieren
Miguel Ildefonso, Andrea Cote Botero, Damián Ríos, Hector
Hernández und Lalo Barrubia unter dem Titel „Hölderlins
Gang durch die Anden“ am 30. Oktober.
Vielstimmige Antworten. Lateinamerika ist ein melting pot der jungen Poesie
Wieso heute nicht die Chronisten der niedergestreckten Neuen Welt, Woman Poma de Ayala, anrufen, oder Maria? Den Kosmos beziffern, und aber auch die Spuren der Violencia abschreiten, dabei den Text zum Körper, den Körper zum Text werden lassen? Die Gäste der Latinale 2007 stammen aus Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Ecuador, (Mexiko?), Peru, Kolumbien und Uruguay. In ihren Werken inspizieren sie Zwischen- und Zwitterorte der lateinamerikanischen Topographie, der Geschlechterordnung, der literarischen Generationalität. Mal queer performiert, mal klassisch gesetzt, im Alltag klingend zermalmt, tönen Verse von den kurvigen Straßen der Anden, von der Peripherie des Río de la Plata, aus den luftigen Höhen von La Paz. Ebenso aber erzählt und visualisiert die auf der Latinale 2007 erwartete Dichtkunst das Vergessene, das Groteske, das Gegenbild – und greift gar auf mittelalterliche Formen zurück. Während am Río de la Plata die mittelalterliche Copla mit dem Slang des Melting Pot fusioniert, vermehren sich in Santiago de Chile Verse tranceartig in mythologisch-musikalischen Bezügen. Lateinamerikanische Zungen – Scherben Poesie zum Zusammensetzen, zu Gast in Deutschland.